Traumtänzer und die Realität
Der Pazifist Miyazaki erzählt von der Leidenschaft einen Traum zu verfolgen und ihn zu verwirklichen, allen Um- und Widerständen zum Trotz.
Hayao Miyazaki hat mit seinem letzten Film ein Meisterwerk erschaffen. Auf erzählerischer wie auch auf visueller Ebene brachte der detailversessene Regisseur sein ganzes Können zu Papier. Das Team aus Animatoren, Koloristen und Hintergrund-Künstlern folgte ihm ehrfürchtig in ein letztes grosses Abenteuer und wurde zu Höchstleistungen angetrieben. Die Produktion lief bereits auf Hochtouren, während Miyazaki noch fiebrig an der Fertigstellung des Storyboards, dem visuellen Drehbuch des Films, arbeitete. Die Zweifel, ob sein letztes Werk seinen Ansprüchen genügen würde, trotz jahrzehntelanger Erfahrung, waren allgegenwärtig.
Miyazaki hat mit Wie der Wind sich hebt keine Märchenwelt erschaffen und keinen Abenteuerfilm. Kein Schwerpunkt in Umwelt und Natur gesetzt und keine starke Frauenfigur zur Protagonistin erhoben. Miyazaki widmet seinen letzten Film Jiro Horikoshi, Ingenieur des japanischen Jagdflugzeugs Mitsubishi A6M (Zero Fighter), dessen revolutionäre Ideen im Flugzeugbau, Japan im Zweiten Weltkrieg zu kurzzeitiger Lufthoheit verhalfen. Eine Ausgangslage, die vor allem im asiatischen Raum für Aufsehen sorgte, weil Japan zu jener Zeit der Aggressor war und nie die gründliche Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs geleistet hat.
Wie der Wind sich hebt ist zwar eine Geschichte über Jiro Horikoshi, aber vielmehr eine fiktionale Liebesgeschichte auf zweierlei Ebenen. Jiro träumt vom Fliegen. Ein Traum so alt wie die Menschheit selbst. Kurzsichtigkeit verunmöglichte es ihm Pilot zu werden und so entschliesst er sich, seinem grossen Vorbild Giovanni Battista Caproni zu folgen, dem italienische Luftfahrtingenieur und Unternehmer. Es ist die Zeit nach dem grossen Kanto-Erdbeben (1923). 140 000 Einwohner sterben in der Grossregion Tokio. Nach dem Tsunami folgt das Feuer. 90 Prozent der Häuser sind beschädigt, der grösste Teil komplett zerstört. Weltweite Depression bringt hohe Arbeitslosigkeit. Mittendrin der junge Jiro, der auf einer Zugreise erstmals die hübsche Naoko Satomi erblickt, die mit Vorliebe Bilder malt. Sie leidet an Tuberkulose, zu jener Zeit unheilbar.
Miyazaki wurde 1941 geboren. Sein Vater war Besitzer von Miyazaki Airplane, eine Fabrik, die Teile für den Mitsubishi A6M Zero herstellte. Als Vierjähriger hat er die letzten Tage des Kriegs miterlebt und flüchtete mit seiner Familie vor Luftangriffen aus der Stadt. Seine Mutter war jahrelang in Tuberkulose-Behandlung. Es sind biographische Elemente, die sich in den Figuren aus Wie der Wind sich hebt wiederfinden und sich mit ihren realen Vorbildern decken. Ausserdem ist Miyazakis Vorliebe für fantastische und reale Flugapparate ein offenes Geheimnis und wichtiger Bestandteil vieler seiner Filme.
„Er liebt Kampfflugzeuge, aber hasst Krieg – Hayao Miyazaki ist ein Mann der Widersprüche“, schrieb Produzent Toshio Suzuki. Ein Kriegsfilm ist Wie der Wind sich hebt aber mitnichten geworden. Im besten Fall ein Anti-Kriegsfilm. Aber Miyazaki erzählt nicht die Geschichte vom Krieg, nicht die reale Entstehungsgeschichte des Zero Fighters. Er erzählt nicht von seiner Zerstörungskraft und nicht von den Schwächen und seinem Untergang. „Kämpfen ist nie gerechtfertigt“, lehrt Jiros Mutter im Film dem Jungen. Der Pazifist Miyazaki erzählt von der Leidenschaft einen Traum zu verfolgen und ihn zu verwirklichen, allen Um- und Widerständen zum Trotz.
„Flugzeuge sind wunderschöne Träume. Ingenieure machen aus Träumen Realität“, sagt Caproni zu Jiro in einer Traumsequenz. Wer könnte diese Lektion besser verinnerlicht haben als Miyazaki selbst. Er, der grosse Traumtänzer, der Zeichnungen durch Animation zum Laufen bringt, unmögliche Fluggeräte durch die Lüfte schickt und seltsame Kreaturen aus dem Nichts erschafft. Jiro Horikoshis Geschichte ist auch Miyazakis Geschichte. Jiro ist Hayaos Alter Ego. In seinen Anfangstagen als Zeichner schaute er mit grossen Augen nach Amerika, Frankreich und Russland und stellte sich die Frage, ob die japanischen Zeichentrickkünstler jemals das Niveau dieser Vorbilder erreichen würde, genau wie Horikoshi, der sich mit einem technischen Rückstand im Flugzeugbau abfinden musste.
Vordergründig ist Wie der Wind sich hebt die stark fiktionalisierte Biographie von Jiro Horikoshi, dem Erfinder des Zero Fighters. In der Figur steckt aber mehr Miyazaki als mancher annehmen würde. Miyazaki hat mit seinem letzten Werk seinen inneren Drang, der ihn ein Leben lang angetrieben, zum Zeichnen gezwungen, zum Arbeiten verdammt hat, nach aussen gekehrt und auf eine Filmfigur projiziert. Mit dem Leitmotiv „Il faut tenter de vivre“ (“Wir müssen versuchen zu leben”) schliesst er den Bogen zu seinem ersten, eigenständigen Werk Nausicaä aus dem Tal der Winde (1984), dessen selbstgezeichnete Manga-Vorlage mit genau diesen Worten schliesst. ■ (aus)
Kaze Tachinu (The Wind Rises)
Land: Japan
Studio: Studio Ghibli
Regie: Hayao Miyazaki
Drehbuch: Hayao Miyazaki
Synchronsprecher: (J): Hideaki Anno, Miori Takimoto, Hidetoshi Nishijima, Masahiko Nishimura, Mirai Jita, Keiko Takeshita, Jun Kunimura, Mansai Nomura, Stephen Alpert. (E): Joseph Gordon-Levitt, John Krasinski, Emily Blunt, Martin Short, Stanley Tucci, Werner Herzog u.a.
Produzent: Toshio Suzuki
Musik: Joe Hisaishi
Laufzeit: 126 Minuten
DE-Kinostart: 17.07.2014
Jap-Kinostart: 20.07.2013
Verleih: ©Frenetic Films (CH), Universum Film GmbH (D)
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