Eine doppelte Liebesgeschichte…
Chico&Rita ist eine Liebesgeschichte, angelehnt an klassische Hollywood-Melodramen, gleichzeitig eine Verbeugung von Regisseur Fernando Trueba und Designer Javier Mariscal vor der Kultur und den Musikern Kubas. Mit einer Mischung aus 2D- und 3D-Technik lassen sie das Lebensgefühl und die Zeit der 1950er-Jahre auferstehen. Mit einfachen, klaren Strichen gezeichnet, auf visueller wie auch akustischer Ebene detailgetreu gestaltet.
Chico ist ein alter Mann und putzt auf den Strassen des heutigen Kuba die Schuhe von Touristen. Dass er einst ein begnadeter Musiker und ein bekannter Klavierspieler war, davon zeugen nur noch seine flinken Finger. Als er in seinem kleinen Zimmer eine Schachtel mit alten Fotos durchsieht, werden seine Erinnerungen wieder lebendig. 1948 ist Chico mit seinem Freund und Manager Ramon unterwegs in den Bars von Kuba, im Schlepptau zwei Touristinnen aus Amerika. In einer Bar fällt sein Blick auf Rita, eine begnadete, aber noch unentdeckte Sängerin. Für ihn ist es Liebe auf den ersten Blick. Schnell kommen sich die beiden näher, verbringen schliesslich die Nacht zusammen. Am nächsten Morgen setzt sich Chico ans Klavier und schreibt ein Lied, dem er den Titel „Rita“ gibt. Doch die beiden sind noch jung und führen ein wildes Leben. Als Chicos Exfreundin Juana ins Zimmer platzt und der Neuen den Kampf ansagt, kehrt Rita dem Frauenheld den Rücken zu und kümmert sich weiter um ihre Gesangskarriere. Doch so schnell gibt Chico nicht auf; Hilfe erhält er von Ramon, der Rita dazu bringt, gemeinsam mit Chico an einem Talentwettbewerb teilzunehmen. Sie gewinnen, versöhnen sich und treten fortan gemeinsam auf. Alles scheint perfekt, bis ein amerikanischer Produzent Rita das Angebot macht, sie in New York gross herauszubringen…
Chico&Rita ist eine echte Liebesgeschichte, wie sie in unzähligen schnulzigen Liedern besungen wird – versetzt mit allen gängigen Klischees, viel Sehnsucht und Drama, aber auch mit wunderschönen Momenten. Dennoch verfällt sie nie dem Kitsch. Zwischen dem Klavierspieler und der Sängerin besteht eine tiefe Liebe, die immer wieder auflodert, durch rationalen Verstand und durch unterschiedliche Lebensziele zwar gedämpft, aber nie zum Erlöschen gebracht wird. Besonders Chico kämpft für seine Liebe, unternimmt alles, um mit Rita zusammen zu sein, erlebt dabei Freude und Enttäuschung, Schmerz und Erlösung.
Regisseur Fernando Trueba und Designer Javier Mariscal lassen in Chico&Rita das Havanna der späten 40er- und 50er-Jahre visuell und akustisch auferstehen. Durch akribische Recherchen vor Ort und dank Zugang zu einem Bilderarchiv konnte die Stadt und mit ihr jede Strassenecke aus dem Jahr 1949 am Computer nachgebaut werden. Bunte Farben, Wärme und Lebensfreude kennzeichnen Havanna, ganz im Gegensatz zu New York, das in ein winterlich-graues Kleid gehüllt wird und den Gemütszustand der Protagonisten widerspiegelt. Trotz der realistischen, historischen Rekonstruktion stehen die Bilder und der Inhalt stets im Dienste der fiktiven Liebesgeschichte. Darum auch erklären Trueba und Mariscal nicht: Politische Unruhen in Kuba, Rassenkonflikte, Drogenhandel und Kriminalität in Amerika werden nur angedeutet, nie aber belehrend thematisiert.
Die Animationstechnik der Rotoskopie, bei der reale Filmbilder übermalt werden, zeigt eine Art stilisierte Realität mit impressionistischen Ansätzen. Designer Mariscal umrandet Figuren und Objekte mit dicken, schwarzen Strichen, welche ihre wichtigsten Merkmale deutlich herausheben, verzichtet gleichzeitig auf feine Details in den Gesichtern. Emotionen werden durch die gesamte Bildkomposition, durch Licht, Schatten und Farben erzielt. Dank der Rotoskopie sind authentische Bewegungen möglich, zugleich lässt sie Spielraum, die Bildsequenz zwischen den Schlüsselbildern künstlerisch frei zu interpretieren. Zudem erlauben die im Voraus gedrehten, realen Bilder eine natürliche Kameraführung in der nachträglich am Computer modellierten Welt.
Neben den Bildern wird die Geschichte gerade von der Musik getragen, denn Chico&Rita präsentiert sich zu einem grossen Teil auch als Musikfilm, der die Zuschauer mit in die Welt der kubanischen Musik und des Jazz der frühen 1950er-Jahre nimmt. Regisseur Trueba, der unter anderem die Latin-Jazz-Dokumentation Calle 54 und den Konzertfilm Blanco Y Negro (mit dem kubanischen Musiker Bebo Valdés und dem spanischen Flamenco-Star Diego „El Cigala“) gemacht hat, bringt seine Kernkompetenz nun in einem neuen Genre ein. Seinen inhaltlich dokumentarischen Stil kombiniert er mit einem nostalgischen Blick auf alte Hollywood-Klassiker wie Casablanca (1942) und bekannte Stars wie Fred Astaire und Josephine Baker, verweist damit auf den „Amerikanischen Traum“ junger Künstler.
Trueba gibt trotz des grosszügigen Einsatzes von Musik keine Lehrstunde; stattdessen rekonstruiert er ein Lebensgefühl, verneigt sich vor der Kultur des Landes und den Musikern und zeichnet eine Linie des Umbruchs im amerikanischen Jazz nach, dem kubanische Musiker wie Chano Ponzo mit Perkussionsinstrumenten Latino- und afrikanische Rhythmen hinzufügten. Trueba lässt aber nicht einfach aus der Konserve einspielen, vielmehr schlägt er die Brücke zur Moderne, indem er heutige Musiker wie die Originale spielen lässt. Man muss kein ausgewiesener Jazz-Kenner sein, um diese doppelte Liebesgeschichte – einmal zwischen Chico und Rita und einmal zwischen Trueba und der Musik – geniessen zu können. Wer die gezeigte Welt aber etwas kennt, der wird sich daran freuen, dass berühmte Musiker wie Chano Pozo in die fiktive Geschichte eingeflochten werden, ohne dass historische Fakten aussen vor gelassen würden. Rumba-tanzend wird jener im Film rücklings erschossen, während Chico später mit Grössen wie Tito Puente und Dizzy Gillespie auf der Bühne steht. In einer Art Hauptrolle ist zudem der kubanische Klavierspieler, Bandleader und Komponist Bebo Valdés zu finden, der für die Darstellung des jungen Chico nicht nur als Inspirationsquelle diente, sondern auch das Stück „Rita“ komponierte. Dennoch basiert der Film nicht auf dem Leben des mittlerweile 92-jährigen, der sich nun endgültig aus dem Musikerleben zurückgezogen hat. Chico steht für eine ganze Generation kubanischer Musiker, die sich zwischen den Welten von Kuba, New York und Paris bewegten.
Obwohl die Geschichte einem klassischen Muster folgt und keine Überraschungen bereithält, ist Chico&Rita aufgrund der grossartigen Musik, der authentischen Atmosphäre und des künstlerischen Handwerks von Mariscal ein absolut sehenswerter und berührender Animationsfilm.
Produzent: Santi Errando, Cristina Huete, Martin Pope, Michael Rose
Regie: Fernando Trueba, Javier Mariscal, Tono Errando
Drehbuch: Fernando Trueba, Ignacio Martinez de Pison
Grafik: Sergio Munoz, Jorge Penny
Musik: Bebo Valdés
Machart: Rotoskopie
Studio: Estudio Mariscal
Stimmen: Ema Xor Ona, LImara Meneses, Mario Guerra