Wenn Kindermärchen lebendig werden
(Leon und die magischen Worte, 2009)
Dominique Monféry erzählt eine gelungene, aber nicht völlig neue Geschichte über ein schüchternes Kind, das während einer abenteuerlichen Reise lernt, buchstäblich über sich hinaus zu wachsen. Ein Zeichenanimationsfilm für Gross und Klein, mit wunderbar stilvollen Illustrationen von Rébecca Dautremer.
Der kleine Nathanaël hat Probleme beim Lesen. Besonders wenn er laut Vorlesen soll, verwandeln sich die geordneten Buchseiten in einen richtigen Buchstabensalat. Von seiner älteren Schwester wird er deswegen gehänselt. Als seine Grossmutter stirbt und ihm den Schlüssel zu einem geheimnisvollen Zimmer im Strandhaus vermacht, erlebt er eine herbe Enttäuschung: das Zimmer ist vollgestopft mit alten Büchern. Vorschnell entschliesst sich der Junge dazu, seinem Vater die Erlaubnis zu geben, die Bibliothek an den Trödelhändler zu verkaufen, damit notwendige Reparaturen am Haus bezahlt werden können. Als er im Zimmer aber Stimmen hört und alsbald zahlreiche Märchenfiguren aus den Buchdeckeln steigen sieht, bereut er seinen Entscheid. Das Mädchen mit den Streichhölzern, Pinocchio, Peter Pan, Scheherazade und sogar seine liebste Figur, Alice im Wunderland, scheinen lebendig geworden zu sein und bitten ihn eindringlich, den Zauberspruch an der Wand vorzulesen, damit ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Ausgerechnet Lesen. Nathanaël stockt und wird von einer griesgrämigen Fee, die nicht an den Retter glaubt, auf ihre eigene winzige Grösse gezaubert. So kann er seinem Vater nicht einmal mehr mitteilen, dass er die Bücher nun doch behalten möchte und landet samt der ganzen Bibliothek im Trödelgeschäft. Schnell muss er sich etwas einfallen lassen, denn die Zeit drängt, wie das weisse Kaninchen eindringlich mahnt. Irgendwie muss er wieder zum Haus seiner Grossmutter zurück. Ein weiter Weg für einen Winzling, der von Alice Gesellschaft erhält, aber auch vom Menschenfresser verfolgt wird.
Zugegeben: Geschichten über Kinder, die sich in ihrer Fantasie besser zurecht finden als in der harten Realität, gab es schon einige. Auch wenn die Anderswelten als wahrhaftig existierend dargestellt werden, lassen sich die darin erlebten Abenteuer immer auch metaphorisch deuten, denn etwas haben alle Geschichten gemeinsam: Die Hauptfiguren machen einen grossen Schritt vom Kindsein zum Erwachsenwerden und schlagen gleichzeitig eine Brücke zwischen den beiden Lebensphasen. Die erlebten Abenteuer stellen dabei eine Art Initiations-Reise dar, welche Alice etwa die Naivität nimmt, Bastian Bux Selbstwertgefühl bringt und Coraline die Abnabelung von ihren Eltern ermöglicht.
Kérity, la maison des contes schickt seinen Hauptcharakter Nathanaël aber nicht in eine Fantasiewelt, sondern holt die Märchenfiguren in die Realität. Mit seinem Bücherfrust ist Nathanaël eine gespiegelte Version des ängstlichen aber lesefreudigen Richard Tylers (Macaulay Culkin) in The Pagemaster (1994), der vom Abenteuer-, Fantasy- und Horror-Roman in die Zeichentrickwelt befördert wird, wo er mit seinen Ängsten umzugehen lernt. Auch der kleine Nathanaël ist ein Auserwählter der Menschenwelt; aber nicht genug, dass er die Märchenfiguren sehen und sogar mit ihnen sprechen kann, auch den Zauberspruch muss er vorlesen, damit die Bücherwelt wieder in Ordnung gerät. Das Verblassen von Rotkäppchen und Konsorten erinnert dabei wiederum an das „Nichts“aus Michael Endes „Die unendlicher Geschichte“. Der visuell stilvoll umgesetzte Zeichenanimationsfilm ist somit eine Collage des Genres, kann sich aber eine gewisse Eigenständigkeit bewahren, indem durch das Schrumpfen der Hauptfigur die echte Welt zum Abenteuerland wird. Überbordende Fantasiewelten und verstrickt komplexe Herausforderungen sucht man dabei vergebens, denn die Geschichte bleibt stets leicht verständlich und überschaubar, so dass der kleine Nathanaël schlussendlich wenig überraschend den Wettkampf gegen die tickende Uhr gewinnt und den Mut findet, den Zauberspruch laut vorzulesen. Ein Zauberspruch der schöner kaum sein könnte: „Ce n’est pas parce que c’est inventé que ça n’existe pas“.