Die Zäsur der Nazizeit sorgte in Westdeutschland für kreativen Stillstand im Animationsfilm. Manche Künstler aus der Szene emigrierten, darunter Oskar Fischinger, Hans Richter oder Lotte Reiniger. Für die verbliebenen Trickfilmer war der Werbefilm in der Nachkriegszeit eine bedeutende Einnahmequelle und bescherte einigen von ihnen grosses Ansehen.
So widmete der Spiegel Hans Fischerkoesen am 29. August 1956 zum Beispiel die Titelseite und schrieb: “Im vergangenen Jahr sahen rund 160 Millionen Kinobesucher in Deutschland seine Markenartikelballaden, in denen der gemütvolle, unkomplizierte Sachse Reklame für so unterschiedliche Erzeugnisse wie Schokolade und Schuhcreme, Bleistifte und Büstenhalter, Zigaretten und Zahnpasta, Markenbutter und Fleckenwasser machte.” Weil Ausbildungsinstitutionen für den Trickfilm fehlten, entwickelte sich die Kunstform aber kaum weiter. Erst gegen Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre waren Studiengänge an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, der staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und der Gesamthochschule Kassel (heute Kunsthochschule Kassel) möglich. In der DVD-Reihe “Geschichte des Deutschen Animationsfilms”, kuratiert von Ulrich Wegenast und herausgegeben von absolut MEDIEN, finden acht Kurzfilme und ein Langspielfilm aus der Zeit zwischen 1954 – 1985 ihre Erstveröffentlichung auf DVD.
Den Einstieg macht Herbert Seggelkes Kurzfilm Eine Melodie – Vier Maler (1954/55), der als Gesamtwerk näher bei einem dokumentarischen Experimentalfilm liegt, als beim Animationsfilm. Vier Maler aus vier unterschiedlichen Ländern – Jean Cocteau (F), Hans Erni (CH), Gino Severini (I) und Ernst Wilhelm Nay (D) – erhielten den Auftrag, eine kurze Sequenz zu einer Polonaise von Johann Sebastian Bach zu gestalten. Sie malten mit Farbstift und Pinsel direkt auf den Filmstreifen oder bearbeiteten diesen mit der Stanze. Seggelke blickt den Malern bei ihrer Arbeit über die Schulter und lässt so etwas wie Mini-Porträts entstehen.
Auch dem Kunstfilm Die Geburt des Lichts (1957/58) von Franz Schömbs wird eine kurze Einleitung vorangestellt, die das Konzept der mit Mustern bemalten Rollbilder, die er auf einen selbst entwickelten Apparat (den Integrator) spannte, genauer erklärt. Schömbs experimentierte mit der Tiefenschärfe, berechnete unterschiedliche Rhythmen und rotierte die Drehbühnen des Integrators und die aufgespannten Rollbilder akribisch nach Manuskript. Durch Mehrfachbelichtung wurden die einzelnen Rollbilder im Endprodukt übereinandergelegt, und so entstand ein Effekt, als würden mehrere Schichten zeitgleich auf einer Bildebene tanzen.
Mit Das Knalleidoskop (1959) von Herbert Hunger und Hans-Jürgen Priebe, der damals den „Silbernen Bären“ gewann, wird der Schritt vom experimentellen Kunstfilm zum erzählerischen Trickfilm gemacht. Glasscherben und Drähte wurden innovativ zu Figuren kombiniert und mittels Legetricktechnik zum Leben erweckt. Die absurde Komik erscheint als eine Art Vorläufer der Trickfilmszenen aus Monty Python, wobei hier mehr Wert auf die Spielerei zwischen Bild und Musik gelegt wird als auf schwarzen Humor.
Die Gartenzwerge (1961) von Grafiker und Karikaturist Wolfgang Urchs wiederum stellt Satire und Kritik ins Zentrum und thematisiert die Verdrängung der Nazizeit durch das Wirtschaftswunder. Gucken die kleinen, farblosen Zwerge anfangs noch scheu aus den Ruinen, so widmen sie sich bald voll und ganz dem Wiederaufbau, dessen bizarren Auswüchse zu unsäglichem Wohlstand führen. Die Zwerge werden grösser und fetter.
Angelehnt an die Erzählung „Rhinocéros“ von Eugène Ionesco kritisiert Jan Lenica, der 1928 in Polen geboren wurde, mit Die Nashörner (1963) totalitäre Systeme, was in Deutschland als Kritik am Nationalsozialismus verstanden wurde. In einer ornamental gefassten Welt lässt er die Menschen in Nashörner verwandeln, weil sie jeglichen Nonsens erdulden, sich anpassen und Meinungen übernehmen, ohne jemals zu widersprechen. Lenica designte die einzelnen Bilder des Kurzfilms als Bildcollagen und bediente sich bei Elementen aus der Grafik.
Die Unterordnung des Individuums ist auch in Schwarz-Weiss-Rot (1963/64) das zentrale Thema. Wie ein Haufen Pantoffeltierchen unter dem Mikroskop tanzen Menschen zu fröhlicher Musik, bis sich Marschmusik durchsetzt und die Kriegsmaschinerie einen weissen Harlekin, Unterhalter und kritischer Beobachter zugleich, niederschiesst. Fortan tragen die Menschen das Hakenkreuz und marschieren im Gleichschritt in den Untergang. Die Gesellschaft erhält daraufhin eine neue Chance, präsentiert sich wiederum als wilder Haufen, bis erneut die Gleichschaltung einsetzt. Helmut Herbst griff damit nicht nur Deutschlands Geschichte auf, sondern übte plakativ Kritik an der Bild-Zeitung, die seinen Chef Gert von Paczensky, Leiter der “Panorama”-Redaktion, aus dem Amt mobbte.
Franz Winzentsens Kunst beruht währenddessen auf elaboriertem Sammeln und dem assoziativen Anordnen. Aus eigenen Fotografien, Bildern aus Zeitschriften, Büchern und Zeitungen entwickelt er mittels Collage und Zeichnen ganz neue Objekte. In Die Erlebnisse der Puppe (1966) durchwandert eine unschuldige und neugierige Puppe eine düstere Welt der Zerstörung und des Kriegs. Der Besuch in einem Kino lässt sie für kurze Zeit in eine farbige Welt abtauchen, bevor sie in die graue, trostlose Realität zurückkehrt. Ihr Blick in einen Gänsemastbetrieb erinnert an die Verbrechen in den Konzentrationslagern und lässt sie traumatisiert wegrennen. Winzentsen lässt durch die Neuanordnung und Neuverwendung bekannter Objekte kuriose Bilder entstehen, die mit doppelter Bedeutung aufgeladen sind. So werden Erdbeeren zu Hühnerköpfen, Augen zu Vögel und Kanonen zu Bäumen.
Mein Bruder (1985) von Jürgen Heer und Hayo Freitag – der im Jahr 2000 den Bundesfilmpreis für seine Regiearbeit in Käpt’n Blaubär erhielt – hat stilistisch betrachtet kommerzielle Cartoon-Qualitäten. Mit Buntstiftzeichnungen lassen sie feine, aber übertriebene Bewegungen entstehen. Die dargestellte Beziehung zwischen zwei gealterten Brüdern,– der eine im Rollstuhl, der andere Pilot – ist von metaphorischen Bildern geprägt, die eindrücklich auf den Zuschauer niederregnen, aber auch schwer zu interpretieren und einzuordnen sind. Mein Bruder wurde 1986 mit dem „Deutschen Kurzfilmpreis“ ausgezeichnet.
Curt Linda zuletzt sucht den Erfolg weniger im künstlerischen Animationsfilm als an der Kinokasse und bei einem breiten Publikum. Mit Die Konferenz der Tiere (1969), nach der bekannten Buchvorlage von Erich Kästner, war er zwar nur mässig erfolgreich, doch zählt dieser heute zu den Klassikern im deutschen Animationsfilm. War dieser noch deutlich als Kinderfilm gekennzeichnet, weist Shalom Pharao (1979-82) – obwohl ebenfalls als Kinderfilm gedacht – deutliche Merkmale eines Animationsfilms für Erwachsene auf. Die witzige Umsetzung der biblischen Josef-Geschichte erinnert in den Bewegungen der Figuren an einen minimalistisch umgesetzten Asterix-Zeichentrickfilm – und er erweist den Galliern sogar eine Referenz mit einem kurzen Dialog zwischen zwei Türstehern. Lindas Anspruch ist es auf intelligente Weise zu unterhalten, lässt respektlos-ironische Dialoge sprechen – „Was ist dir lieber, vulgär oder schwul?“ – und verweist mit Seitenhieben auf die Vergangenheit und die Gegenwart der Menschheitsgeschichte. Durch die historischen Bezüge, dem nicht immer ganz ernsten Umgang mit der Geschichte und die beschreibende Erzählstimme hat Shalom Pharao auch etwas von der französischen Zeichentrickserie Il était une fois… l’homme (Es war einmal… der Mensch, 1978).
Geschichte des deutschen Animationsfilms
Kuratiert von Ulrich Wegenast
Kritik und Experiment
Der westdeutsche Animationsfilm
Länge: 158 Min.
Bild: PAL/Farbe+s/w/1:1,66
Ton: Stereo+Mono
Sprache: Deutsch
Disk: DVD9/codefree
Extras: Mit ausführlichem Booklet
Vertrieb: absolut MEDIEN GmbH
Bilder: © absolut MEDIEN. All rights reserved.