Inhalt: Ende der achtziger Jahre. Alois Nebel arbeitet als Fahrdienstleiter an einem kleinen Bahnhof in Bílý Potok (ehemals Weißbach), einem abgelegenen Ort an der tschechoslowakisch-polnischen Grenze, dem früheren Sudetenland. Er ist ein Einzelgänger, der das Sammeln alter Fahrpläne der Gesellschaft von Menschen vorzieht. Doch manchmal legt sich der Nebel über die Bahnstation, und dann sieht er Züge mit Geistern und Schatten aus der dunklen Vergangenheit Mitteleuropas: dem Zweiten Weltkrieg, der Vertreibung der Deutschen, der sowjetischen Besatzung. Alois Nebel wird diese Alpträume nicht los und endet schließlich in einem Sanatorium. Dort lernt er „den Stummen“ kennen, der bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, verhaftet wurde. Niemand weiß, warum er nach Bílý Potok gekommen ist oder was er dort sucht, aber er ist es, der Alois Nebel dabei hilft, den Kampf gegen seine Dämonen aufzunehmen …
Alois Nebel ist ein Film, dessen Handlung unweigerlich mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verknüpft ist und dessen Graphic Novel Vorlage sich vor allem in Deutschland bei Kritik und Publikum großer Beliebtheit erfreut. Ein Film, der 2011 bei seiner Premiere in Venedig bejubelt wurde. Ein Film, der 2012 mit dem europäischen Filmpreis als bester Animationsfilm ausgezeichnet wurde und der zugleich als bester Film und Animationsfilm für den Oscar eingereicht wurde. Ein Animationsfilm, von dem wesentliche Teile in Deutschland produziert worden sind. Und trotz dieser stichhaltigen Argumente vergingen über zwei geschlagene Jahre, bevor sich ein Verleih an den Film heran traute. Selbst Comicbuch-Autor Jaroslav Rudis war der Meinung, dass die Verfilmung seines Comics nach Deutschland gehöre und kommentierte den verspäteten Kinostart knapp mit „aber das hat ein bisschen gebraucht“. Wie so vieles in Deutschland.
Der gutmütige, aber phlegmatische Alois ist ein in sich zurückgezogener Bahnhofsangestellter in der Provinz, der seinen Frieden vor der eigenen Unrast im Lesen von alten Fahrplänen sucht. Erinnerungsfetzen, ein wortkarger Fremder und die raue Sitte von Land und Leute bilden den unterschwellig brodelnden Zunder, der sich langsam vorarbeitet, bis er in einem Pulverfass aus assoziativen Bruchstücken Alois um die Ohren fliegt. Der Film fügt sich langsam aus Handlungsfragmenten zusammen, die selbst am Ende nicht fugenlos zusammen passen, sondern erst in den Köpfen der Zuschauer ein Gesamtbild ergeben. Ein Bild, verstörend, mürrisch, beschwichtigend und romantisch zugleich. Die Faszination entspringt dabei aus Alois selbst, dessen Passivität sich durch den Großteil des Films zieht. Er ist ein Opfer seiner Kindheit. Gefangen im eigenen Körper. Ihm müssen erst zwei Fremde begegnen, bevor er aufhört, ein apathisches Blatt im Wind zu sein. Als wäre es Schicksal, wandelt sich Alois, dessen Dasein vom Dunst und Nebel der eigenen Vergangenheit beeinträchtigt, in einen Mann, der beginnt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aus Alois Nebel wird sein “Ananymes Ego” Alois Leben.
Rotoskopische Melancholie
Heimlicher Star des Films sind zweifelsfrei die im Herzen von Europa ruhenden Landschaften des ehemaligen Sudetenlandes. Ein raues, schonungsloses Niemandsland mit einer durchschnittlichen Jahrestemperatur von 1 Grad Celsius, die es schafft, im Zuschauer so manche Melancholie und Sehnsüchte zu wecken. Regisseur Lunák inszenierte seinen zweiten Protagonisten ganz ohne Hilfe des Computers. Er nutzte zwar für mechanische Bildelemente wie Fahrzeuge oder Züge die Vorteile von gerenderten, perspektivisch frei drehbaren Computermodellen, aber für die stimmungsvolle Umsetzung der weiten Landschaftsflächen und Wälder bediente sich der Regisseur bei klassischen, zweidimensionalen (digital) gezeichneten Bildebenen, ganz wie Walt Disney bei seinen Meisterwerken.
Der beachtlichste Animationstrick, den der Regisseur Walt Disney entlieh, wurde zum prägenden Grafikelement des Films. Die Rotoskopie. Der Film wurde ursprünglich mit echten Schauspielern über 40 Tage lang gedreht, jedoch danach während einer aufwändigen, zweieinhalbjährigen Nachbearbeitungszeit Bild für Bild nachgezeichnet und damit in einen Animationsfilm verwandelt. Das rotoskopische Verfahren wurde bereits in ähnlicher Weise in Ari Folmans Waltz with Bashir oder Richard Linklaters Waking Life eingesetzt. Und auch bereits 1937, um Schneewittchen lebendig werden zu lassen. Die Technik ist es, die die Bewegungen der Figuren absolut lebensecht wirken lässt. Die akribisch übernommenen Bewegungsabläufe und die teils durchscheinenden echten Hintergründe – insbesondere bei Innen- und Detailaufnahmen – sorgen dafür, dass Alois Nebel als Film das Beste aus beiden Welten – Realdreh und Animationsfilm – mitgegeben wurde. Ein expressionistisches Wandgemälde, das zum Leben erwacht.
Tomás Lunák musste den tschechischen Kultcomic zurechtbiegen, um den Gesetzen des Filmmediums gerecht zu werden. Er machte die Vorlage geradliniger und die sprunghafte Erzählung verständlicher – aber blieb ihr dennoch treu. So darf sich auch der filmische Alois Nebel eine introvertierte, groteske Auseinandersetzung mit einem lange geschmähten Stück Nachkriegsgeschichte nennen. Ebenso ausdrucksstark wie nachhaltig. Ein meditativ-monochromes Filmerlebnis, ein entmystifizierender Eisenbahner-Blues, der aus der Passivität der Titelfigur im Kontrast der Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen aus dem früheren Sudetenland eine provokative Dynamik erzeugt. Eine buchstäbliche Naturgewalt auf leisen, unterschwelligen Sohlen. Stille Seen sind tief. Besonders in Bílý Potok.
Was Filmland Deutschland von seinen Nachbern lernen kann
Dem Regisseur gelang europäisches Animationskino in Reinkultur, in seiner besten und für manche wohl auch anstrengendsten Form. Mit all den Essenzen, auf die amerikanische Filmemacher missgünstig schauen oder für die wir belächelt werden. Im alten Europa wird der Animationsfilm noch nicht ausschließlich als kindergerechtes Genre angesehen, sondern noch als eigenes Medium. Es werden noch Geschichten erzählt, die im wahren Leben verankert sind. Geschichten, die Realität einfangen, aber durch die Abstraktion der Animation zusätzliches Gewicht verliehen bekommen. Die Franzosen bilden in dieser Hinsicht die europäische Speerspitze, die den Amerikanern regelmäßig zeigt, zu was Animation abseits von technischen Superlativen und eierlegenden Wollmilchtentpoles fähig sein kann. Dass es auch ausserhalb der französischen Grenzen entsprechende Vertreter gibt, beweist Alois Nebel, der zwar mit deutscher Unterstützung produziert wurde, aber in dessen Brust ganz und gar ein tschechisches Herz schlägt. Einem Land mit langer Animationstradition, die jedoch mit dem Zusammenbruch der staatlichen Filmproduktion 1989 ein jähes Ende nahm.
Was aus deutscher Sicht schmerzt, ist die Tatsache, dass zwar wesentliche Teile von Alois Nebel in Deutschland entstanden sind (u.a. beim Dresdner Animationsstudio Balance Film), aber dass ein solch reifes, ambitioniertes Filmprojekt in Deutschland ohne die Initiative aus dem Ausland wohl keine Chance hätte, jemals produziert zu werden. Der deutsche Animationsfilm befindet sich seit Jahren in einer selbstgefälligen Stasis, unterstützt von konservativen Produzenten, veralteten Fördersystemen und dem Widerwillen, die Abneigung und Vorurteile des eigenen Publikums abzubauen. Wie die Amerikaner gefällt man sich als Lieferant von seichten Kinderfilmen und meidet echte Kreativität und Risikobereitschaft, wie der Teufel das Weihwasser. Bis der Animationsfilm auch in Deutschland (wieder) als ernstzunehmende Kunstform abseits von Kinderfilmklischees angesehen wird, bedarf es umfangreichen Reformen auf staatlicher Ebene und einem noch dringenderen Generationenwechsel in den Reihen der Animationsfilmproduzenten. Aber auch das wird noch “ein bisschen brauchen“, um es mit den Worten von Rudis auszudrücken. Vielleicht auch ein bisschen länger.
8/10
Alois Nebel Land/Jahr: Tschechien, Deutschland/ 2011 Animationsstudio: u.a. Balance Film (Dresden) Regie: Tomás Lunák Drehbuch: Jaroslav Rudis, Jaromír Svejdík Graphic Novel: Jaroslav Rudis, Jaromír Svejdík Synchronsprecher: (CZ) Miroslav Krobot, Karel Roden, Marie Ludvíková, Alois Svehlík, u.a. Produzent: Karl Baumgartner, Pavel Rejholec, Thanassis Karathanos, Pavel Strnad, Henrich Drziak, u.a. Schnitt: Petr Riha Musik: Petr Kruzík Laufzeit: 84 Minuten DE-Kinostart: 12.12.2013 CZ-Kinostart: 29.09.2011 Verleih: Neue Visionen Weitere Infos bei IMDB |