Man stelle sich vor: Ein Schauspieler gewinnt einen Oscar, aber kann nicht an die Verleihung kommen weil er Wochen zuvor verarmt ist. Undenkbar. Nicht so bei der Kategorie “Best Visual Effects” der gestrigen Oscarverleihung. Rhythm & Hues (R&H), ein führendes und international tätiges Postproduktionsunternehmen für Hollywoodfilme und Werbung wurde gestern mit seinem dritten Oscar für die Arbeit an Life of Pi ausgezeichnet. Nur musste das Unternehmen vor einer Woche – kurz nach dem das VFX-Studio bereits den BAFTA für die besten digitalen Filmeffekte gewann – Insolvenz anmelden. Resultat: Einer noch ungenannte Anzahl der 1400 Angestellten wurde gekündigt, andere können nur noch bis April beschäftigt bleiben. Und das, obwohl viele von ihnen unbezahlte Überstunden für die Fertigstellung von Life Of Pi eingelegt hatten.
Die Angestellten von Rhythm & Hues wurden seit fünf Wochen nicht bezahlt und nur dank einer 20 Millionen Dollar Finanzspritze dreier Hollywoodstudios – für die das Unternehmen noch an einem halben Dutzend Kinoproduktionen sitzt – ist R&H noch bis April im Stande das operative Geschäft fortzusetzen. Die Finanzberaterfirma Houlihan Lokey wurde nun engagiert, über einen Käufer einen Weg aus dem Bankrott zu finden. Zuletzt arbeitete das Unternehmen an Filmen wie 300: Battle of Artemesia, Percy Jackson 2, R.I.P.D., Category 6 oder Snow White and the Huntsman.
Mit dieser Ungerechtigkeit erreicht eine bislang von Hollywood und der Öffentlichkeit ignorierte Krise einen neuen Höhepunkt (näheres dazu findet ihr weiter unten). Dadurch entstand eine Solidaritätsbewegung, die sich durch die ganze Filmbranche zieht und mittlerweile auch Facebook und andere soziale Netzwerke erreicht hat. In Form von grünen (oder blauen) Profilbildern wird Solidarität bekundet, dabei soll das grüne Rechteck eine Greenscreen symbolisieren, den Inbegriff heutiger Postproduktion. Auch wir von ANIch zeigen uns solidarisch und schmücken unsere Facebookseite mit einem schlichten grün.
Bereits im Vorfeld der Oscarverleihung gingen knapp 500 Artists von R&H und anderer VFX-Unternehmen in Los Angeles auf die Straße und demonstrierten vor dem Dolby Theater, während Hollywood sich im Inneren selbst pries. Auch in New York, Neuseeland und Kanada kam es zu Protesten.
Obwohl Life Of Pi Favorit in der Kategorie war, war es meines Erachtens unwahrscheinlich, dass die Academy diesem “Problemfall” den Preis verleihen würde. Schließlich hält sich die Academy normalerweise aus politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Problemen raus und konzentriert sich auf die Wahrung der heilen Hollywoodwelt. Warum soll man riskieren, dass ein paar VFX-Produzenten ihre Dankesrede als Plattform für eigene Zwecke missbrauchen? Doch welch Überraschung, der Oscar® für die besten VFX ging tatsächlich an den schiffbrüchigen Tiger. Und zur noch größeren Überraschung hielten Bill Westenhofer, Guillaume Rocheron, Erik-Jan De Boer und Donald R. Elliott sich zurück. Erst während den letzten Sekunden begannen sie die Problematik, die in Hollywood herrscht, anzusprechen. Kurz bevor sie von der Rausschmeißermusik und dem stumm geschalteten Mikrofon von der Bühne befördert wurden. Eigentlich verwunderlich, steht doch das eigene Unternehmen und schlimmer noch, eine ganze Industrie auf der Kippe.
Sündenbock gesucht – falscher gefunden
Nach der empfundenen Schmach, einer insolventen VFX-Bude und deren arbeitslosen, unbezahlten Artists quasi posthum einen Oscar® zu verleihen, brachte die Dankesrede von Ang Lee – dem Regisseur von Life Of Pi – das Fass zum Überlaufen. Lee verlor kein Wort über R&H und die kriselnde VFX-Industrie, was die Branche als Affront empfand. In einem offenen Brief wandte sich Phillip Broste (Lead Compositor bei R&H) an den Regisseur, der sich zuvor ungünstig über die “überteuerten Visual Effects” ausließ. Es scheint, als hätte die Industrie endlich mit Lee und der Academy zwei Sündenböcke gefunden, nach dem sich Hollywood als zu unnachgiebig und unantastbar zeigte.
Aber warum sich die VFX-Branche nun in Ang Lee verbeisst, verstehe wer will. Lee stieß als Auftragsregisseur zur Produktion von Life of Pi hinzu (viele bekannte Namen kamen und gingen bevor Ang Lee den Zuschlag erhielt) und dieser war weder bei der Preisverhandlung noch bei der Wahl der VFX-Studios involviert. Denn Ang Lee ist kein James Cameron, kein Michael Bay, kein Peter Jackson. Tatsächlich sträubte sich der Regisseur lange Zeit gegen VFX in seinen Filmen. Auch die Academy mag meiner bescheidenen Meinung nach ihren Kopf aus der Schlinge ziehen. Die Entscheidung, die Herren Westenhofer, Rocheron, De Boer und Elliott auszuzeichnen, kam trotz der Favoritenrolle des Films überraschend und ist genau deswegen beachtenswert. Dass die VFX-Produzenten diese einmalige Chance nicht wahrnahmen dagegen nicht. Anstatt den Oscar® abzulehnen und von der ersten Minute an auf die VFX-Problematik hinzuweisen, warten sie lieber bis zur letzten Sekunde und watschelten anschließend grinsend mit den Goldjungen davon. Wenn das eigene Ego also wichtiger erscheint als die Zukunft des eigenen Unternehmens und einer ganzen Branche, dann sollten die erbosten Artists lieber die oben erwähnten Herren zu den Sündenböcken des Abends degradieren. Man merkt, ich bin kein Fan von dieser einseitigen Hetzkampagne gegen einen Regisseur, der von der VFX-Branche zu wenig Ahnung hat, um ihn wirklich als Sündenbock abstempeln zu können.
Eine Krise so alt wie die Industrie – so akut wie nie
Leider ist das nur der jüngste Vorfall einer langen Kette von dramatischen Entwicklungen einer am Tiefpunkt stehenden Industrie. Der ständige Preiskampf der VFX-Firmen untereinander und Hollywoods übermächtige Position machen sich nun endgültig bemerkbar. Die letzten 5-10 Jahren versuchten die mittleren und großen Postproduktionsstudios, dem Preisdruck standzuhalten, indem sie mit ihrer Produktion in Länder auswichen, in denen es sich mittels Steuervorteilen oder geringerer Betriebskosten günstiger arbeiten ließ. Besonders Indien kam in den Verruf, den westlichen Artists wertvolle Jobs wegzunehmen. Aber auch diese Maßnahmen hatten nur kurzfristigen Erfolg. Kalifornische Unternehmen sind besonders betroffen, da diese Schwierigkeiten haben, mit den niedrigen Preisen kanadischer, englischer oder eben indischer Firmen mitzuhalten. In den vergangenen Monaten und Jahren gingen mehrere kleine und mittlere Unternehmen still und leise vor die Hunde und schlossen ihre Tore. Erst die Insolvenz einer der größten Postproduktionsunternehmen Hollywoods, das von James Cameron gegründete Digital Domain (hier nachzulesen), ließ die Industrie aufhorchen – und schnell wieder vergessen. R&H ist bloß das neueste der namhaften Opfer, aber wird mit Sicherheit nicht das letzte sein.
Es ist wie in Deutschland ein im Grunde altes Problem, das teilweise auch selbst verschuldet wurde. Man verkauft sich und das eigene Knowhow unter Wert um wettbewerbsfähig zu bleiben und Prestigeprojekte für das eigenen Portfolio zu bekommen. Auch sind die Research & Development Kosten bei Postproduktionsunternehmen exorbitant, da sie nur in den allerseltensten Fällen mit Standardprogrammen und -Lösungen arbeiten können, sondern beinahe jedes Filmprojekt individuelle Lösungen benötigt. Die Hollywoodstudios schauen zu, wie sich die VFX-Produzenten gegenseitig zerfleischen und geben es dem letzten, der übrig bleibt, der einen Kampfpreis kalkulierte, bei dem in anderen Branchen längst das Handtuch geschmissen worden wäre. Ein großes von Hollywood verschuldetes Problem ist zusätzlich die Unzuverlässigkeit der Produktionszeitpläne. Gerade R&H hatte in dieser Hinsicht Pech. Mehrere Hollywoodaufträge wurden kurzfristig verschoben oder gestrichen, womit die Zahlungen ausblieben obwohl bereits mit der Vorarbeit begonnen wurde. Man sieht, eigentlich keine wirklich neuen Probleme – so sieht der Alltag der meisten Freelancer auch in Deutschland/Schweiz aus – nur eben auf einer ganz anderen Ebene.
Pixomondo schließt Niederlassungen
Erst vor wenigen Tagen gab auch Pixomondo bekannt – ein deutschstämmiges und binnen wenigen Jahren zu einem der erfolgreichsten VFX-Studio avanciertes Unternehmen für Hollywoodproduktionen – ihre Niederlassungen in London und Detroit zu schließen und die Angestellten unbezahlt auf die Straße zu schicken. Pixomondo befindet sich seit geraumer Zeit in der Kritik, seine Angestellten und Freelancer unpünktlich oder gar nicht zu entlöhnen. Das ging soweit, dass sich Angestellte darüber beklagten, dass es an Toilettenpapier und fließend Wasser fehlte. Erst letztes Jahr gewann das Unternehmen für seine Arbeit an Martin Scorseses Hugo seinen ersten Oscar®. Sollte die Tendenz anhalten, dürfte der Oscar® in VFX-Kreisen sehr bald mehr mit einem “Schwarzen Peter” als einem Hollywoodtraum in Verbindung gebracht werden.