Der Moment der Wahrheit
1942 – der Zweite Weltkrieg beherrscht Europa. An der Ostfront versuchen die Nazis tiefer in die Sowjetunion vorzudringen, stossen aber auf erbitterten Widerstand. Hinter den Fronten operieren Geheimdienste. Die Deutschen unterhalten den okkulten Bund „Ahnenerbe“ und versuchen in düsteren Seancen ihre Vorfahren zu beschwören und als Verbündete zu gewinnen. So etwa Baron von Wolff, der bereits 700 Jahre zuvor als Kreuzritter gegen die Russen kämpfte, sich geschlagen geben musste und seither auf Rache sinnt. Auf der russischen Seite trainiert die 6. Division der „Sovjet Military Intelligence“ Teenager, die übersinnliche Kräfte besitzen. Aber bereits zu Beginn des Krieges muss diese Truppe, genannt „First Squad“, eine bittere Niederlage einstecken – nur Nadya überlebte. Die 14-jährige besitzt hellseherische Fähigkeiten und kann den „Moment der Wahrheit“ erkennen: den Zeitpunkt, in dem einzelne Menschen den Ausgang einer ganzen Schlacht bestimmen können. Weil die Nazis diesen Moment nutzen wollen, um ihre Geister und Dämonen aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden zu holen, planen die Russen als Gegenschlag den „First Squad“ in die Schlacht zu führen, doch dafür muss Nadya die Anderswelt betreten und die gefallenen Mitglieder zusammensuchen…
Trotz der offensichtlichen Fantasy-Elemente hat First Squad das Ziel, möglichst authentisch zu wirken. Um die gezeigten Ereignisse mit Tatsachen zu untermauern, erzählen vermeintliche Historiker, Kriegsveteranen und Buchautoren – ganz dem dokumentarischen Genre angepasst als „Talking Heads“ inszeniert – von historischen Fakten und persönlichen Erlebnissen. Diese Zeitzeugen werden zwischen die gezeichneten Bilder hineingeschnitten und sollen das Gezeigte wortreich stützen. Steigt Nadya in einen Zug, um an die Front zu gelangen, erzählt anschliessend ein alter Mann, dass viele minderjährige Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen auf die Waggons sprangen, sofern noch ein Platz zwischen den Soldaten zu finden war. Auch wenn die Darsteller mit traurigen und betroffenen Augen in die Kamera blicken, nimmt man ihnen das Gesagte nicht wirklich ab. Dies liegt einerseits daran, dass zu keinem Zeitpunkt versucht wird, das Gezeigte auch wissenschaftlich und mit – wenn auch gefälschten – Beweisen anzureichern, andererseits nimmt die Geschichte stark übernatürliche Form an und kann sich so nicht einmal mehr innerhalb der eröffneten Welt glaubwürdig verkaufen. Dazu tragen weder die okkulte Beschwörung noch der Glaube an die Wiederauferstehung von Geistern bei, dafür aber die mentale Technik, welche die Protagonistin anwendet, um die Mitglieder der First Squad, quasi auf der Autobahn ihres Unterbewusstseins, von der Totenwelt ins Reich der Lebenden zu holen. Warum man die Geister und Dämonen überhaupt in die reale Welt vordringen lässt, statt den First Squad direkt in der Anderswelt (in der sich die tote Teenager-Truppe ohnehin befindet) auf die Bedrohung anzusetzen, ist schleierhaft.
First Squad ist eine Koproduktion von Studio 4°C (Tekkon Kinkreet, Animatrix) und Russlands Molot Entertainment. Während sich die Japaner auf die Aspekte der Animation konzentrierten, stammt die Idee und das Drehbuch zur Produktion von Illustrator Aljosha Klimov und Designer Misha Shprits. In den 80er Jahren waren in den USSR die illustrierten Bücher „Pioneer Heroes“, in denen junge Pioniere gegen die Nazis kämpften, äusserst erfolgreich bei den Jugendlichen, westliche Comics und Filme fanden damals nur selten den Weg ins Land. First Squad basiert lose auf Bildern jener Helden. Die Zusammenarbeit mit Studio 4°C gründet auf ein Musikvideo, das die Japaner 2005 für den russischen Rapper Legalize gemacht hatten, welches wiederum von Klimov und Shprits produziert wurde. Bereits damals war der Kampf zwischen sowjetischen Pionieren und Nazis, die mit Mechas und übermenschlichen Soldaten auftraten, zentrales Thema. 2007 begann man mit den Arbeiten an First Squad, der ursprünglich einmal der Auftakt zu einer Anime-Serie hätte sein sollen – und das sieht man dem Film deutlich an. Mit knapp 70 Minuten ist er für einen abendfüllenden Film etwas zu kurz geraten. Zieht man die fiktiven Interviews ab, bleibt noch knapp eine Stunde Laufzeit übrig. Bei Sony Home Entertainment, die sich die Rechte für die deutsche Veröffentlichung gesichert haben, belässt man es bei der Anime-Kurzversion. Viele werden diesen Schritt begrüssen, da die Geschichte durch die „Talking Heads“ eher unterbrochen als inhaltlich ergänzt wird. Dennoch hebt gerade dieser Mix aus vermeintlichen Fakten und Unterhaltung den Anime aus der Masse hervor.
Auch wenn First Squad unter der hastig erzählten Geschichte zu leiden hat und sich kaum Zeit nimmt, einzelne Charaktere tiefer zu ergründen – darauf spekulierend, dies alles in einer möglichen Serie nachholen zu können –, so kann der Anime sehr wohl als eigenständiges Werk bestehen. Der Zuschauer sitzt im gleichen Boot wie die Protagonistin Nadya, die bereits während den ersten Filmminuten einen Gedächtnisverlust erleidet und, anschliessend orientierungslos, nur noch ihrem Gefühl vertraut. Dadurch gerät sie mehrfach in brenzlige Situationen, in denen die Spannung deutlich ansteigt. Hinzu kommen stark choreographierte Action-Szenen und eine dichte Atmosphäre, immer dann, wenn Nadya nicht mit übernatürlichen Dingen zu tun hat. Ebenfalls bemerkenswert ist die Tatsache, dass mit First Squad ein Anime vorliegt, der sich im Original der russischen Synchronisation bedient und nicht aufs Japanische zurückgreift. Die Kombination erinnert an Avalon (2001), Mamoru Oshiis (Ghost in the Shell) Realfilm, den er in Polen, mit polnischen Schauspielern und in deren Landessprache verwirklichte. Ein deutlicher Bezug ist auch zu Andrei Tarkowskis (Solaris) Langspielfilmdebüt Iwanowo detstwo (Iwans Kindheit, 1962) zu finden. Darin zieht der 12-jährige Iwan mit einer Gruppe von Partisanen gegen die Deutschen in den Krieg. In Traumsequenzen erfährt man mehr über seine Motivation und sein Schicksal. First Squad bedient sich mittels Visionen stilistisch ebenfalls der Rückblenden, die Nadyas Leben vor dem Gedächtnisverlust zeigen. Die Inspiration zum Ritterorden um Baron von Wolff indes basiert auf Sergei Eisensteins Alexander Newski (1938). Als propagandistisches Mittel gegen die Deutschen, vom Diktator Josef Stalin in Auftrag gegeben, erzählt der Film vom russischen Nationalheld Alexander Jaroslawitsch Newski, der die Streitmacht der Deutschen Ordensritter im Jahr 1242 auf den zugefrorenen Peipussee lockte und dort vernichtend schlug. 700 Jahre später wollen die Nazis im Anime den Gefallenen wieder kämpfend an ihrer Seite sehen.
Die Kombination russischer Kriegsgeschichte und fantastischer Elemente ist wahrlich Geschmackssache. Mit dem Besuch des Jenseits treibt man es aber etwas zu weit und zerstört die anfangs aufgebaute, wenn auch schnell durchschaute Glaubwürdigkeit des Films. Weil sich der Anime aber nicht in einem Paralleluniversum, sondern in einer historisch realistischen Zeit ansiedelt, Verweise auf die russische Filmgeschichte macht und sich der russischen Sprache bedient, hat er es geschafft, sich eine kleine Sonderstellung im Genre zu erarbeiten.
FIRST SQUAD – MOMENT DER WAHRHEIT (2009)
Russland, Japan, Kanada, 73 Minuten
STUDIO: Studio 4°C, Molot Entertainment Film
REGIE: Yoshiharu Ashino
DREHBUCH: Aljosha Klimov, Misha Shprits
MUSIK: DJ Krush
STIMMEN: Elena Chebaturkina, Aleksandr Gruzdev, Artem Kipnis, Sergei Aisman
VERTRIEB: Sony Pictures Home Entertainment
DVD: 11.08.2011