Der Sinn des Lebens kommt per Post
Tatia Rosenthal gelingt mit $9.99 ein wunderbarer, emotionaler, philosophischer Stop-Motion-Film für Erwachsene und zeigt nach Walz with Bashir erneut das Potential der israelischen Animationskünstler.
Dave Peck ist ein 28-jähriger arbeitsloser Junggeselle und wohnt noch bei seinem Vater. Statt sich um einen Job zu bemühen und endlich auf den eigenen Beinen zu stehen, sucht er verträumt nach Antworten auf existentielle Lebensfragen. Diese findet er in einem Buch mit dem bedeutungsvollen Titel „The Meaning of Life“, das er für günstige $9.99 im Internet bestellt. Überwältigt möchte er das neu gewonnene Wissen weitergeben, stösst bei seinem Vater aber auf taube Ohren. Die anderen Bewohner des Hochhauses schlagen sich ihrerseits mit ihren eigenen alltäglichen Problemen herum und stellen sich unbewusst doch alle die gleiche Frage nach dem Sinn des Lebens…
So auch der einsame alte Mann, der verzweifelt versucht, seine Mitmenschen in ein Gespräch zu verwickeln, um etwas Aufmerksamkeit zu erhalten. Selbst die nette Dame am anderen Ende der Telefonleitung, die zwecks einer Umfrage zum Thema Reisen anruft, wird Zuhörerin einer ausschweifenden Geschichte und dabei liegen die Koffer des Mannes doch seit Jahren verstaubt auf dem obersten Regal. Als er eines Tages unerwartet Besuch von einem vergrämten Engel (Stimme: Geoffrey Rush) bekommt, kehrt der Lebensmut wieder in den alten Körper zurück. Daves Bruder lernt währenddessen eine hübsche junge Dame kennen, die auf Männer ohne Haare steht; ein kleiner Junge träumt von einer heissbegehrten Action-Figur, die er sich im Moment noch nicht leisten kann und ein junger Mann ersäuft seinen Frust über die soeben erfolgte Trennung von seiner Freundin mit drei imaginären Freunden in Bier.
Regisseurin Tatia Rosenthal hat gut zehn Jahre ihres Lebens in diesen Animationsfilm, der auf einer Kurzgeschichte von Etgar Keret basiert, investiert. Zusammen mit dem renommierten israelischen Schriftsteller hat sie die Filmadaption entwickelt und mit Hilfe von sechs australischen Animatoren als Stop-Motion-Film umgesetzt. Bereits eine Dekade früher hat Rosenthal Kerets Werke „Breaking the Pig“ mit echten Schauspielern und „Crazy Glue“ als Animationsfilm verwirklicht. Als cineastische Inspirationsquelle nennt Rosenthal SHORT CUTS (1993) und MAGNOLIA (1999) die wie $9.99 episodisch aus dem Leben unterschiedlichster Menschen erzählen.
Trotz des animierten Puppenspiels verfolgt Rosenthal einen realistischen Stil und driftet dabei nie ins cartoonesque ab. Die Figuren besitzen eine rohe Oberfläche – auf den Gesichtern sind die Bürstenstriche deutlich hervorgehoben – und erinnern dabei an die Portraits von Lucian Freud (Queen 2000-2001). Die Illusion der Stop-Motion wird so dezent aufrecht erhalten, dass die Geschichte vollumfänglich zum Tragen kommt und die gewählte Technik in den Hintergrund zu treten scheint.
Über die Frage nach dem Sinn des Lebens stolpern alle Figuren. Auch wenn diese nicht aufdringlich gestellt wird, so dient sie besonders für den Zuschauer als melancholischer Leitfaden. Auf ruhige Weise wird in den Alltag einzelner Individuen geblickt, die an einem Punkt stehen, an dem sie irgendwie unzufrieden, ja sogar unglücklich sind, aber nicht genau wissen warum. Sie hoffen, dass das Leben noch etwas mehr, etwas bedeutungsvolleres, etwas aufregenderes zu bieten hat, sehen sich aber gleichzeitig mit der Angst konfrontiert, dass dem nicht so ist.
Aus der günstigen Broschüre wird dem Zuschauer kaum etwas verraten und doch ergibt sich schlussendlich das Bild einer Suche nach dem Glück im Leben. Dieses wird aber viel weniger gefunden, denn erkannt. Selbst wenn die Figuren erst erfolglos nach Verbesserung streben und kurz darauf in passiv depressivem Verhalten versinken, so waren ihre Bemühungen nicht umsonst. „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen: Denn das Glück ist immer da,“ schrieb einst Goethe nieder. Eine universelle Lebensformel, die alle Bewohner miteinander verbindet, die ihren Sinn des Lebens aber in ganz unterschiedlicher Ausprägung finden. Auch wenn der alte Mann zum Schluss tatsächlich seine Reisekoffer packt und vorübergehend sein trautes Heim verlässt, so beschreitet er dadurch symbolisch einen Weg fernab von Stillstand und Monotonie. Eine Überwindung, die manchmal einen kleinen Anstoss braucht, aber grosse Befriedigung nach sich zieht.