„Schwarz ist traditionell…“
Zum Sommeranfang wurde die Eiszeit ausgerufen und der Herbst verspricht einen Höhenflug mit Pixar. In der Zwischenzeit setzt Regisseur Henry Selick (The Nightmare Before Christmas) auf einen handgemachten Trickfilm, der sich als erster stereoskoper 3D-Stop-Motion-Film bezeichnen darf. Das gruselige Abenteuer um Coraline lockt mutige! Kinder ins Kino und setzt in seiner technischen Ausführung neue Massstäbe. Grossartig!
Coraline und ihre Eltern verschieben ihren Wohnsitz von der Stadt aufs Land und beziehen neben kuriosen Nachbarn ein geräumiges Haus. Fernab von blinkenden Lichtern der Grossstadt und nervtötendem Verkehrslärm, können sich Vater und Mutter hier endlich voll und ganz auf ihre Arbeit konzentrieren. Dabei vernachlässigen sie aber ihre Tochter, die ihre Freunde vermisst und sich bereits mächtig langweilt. Um etwas Aufmerksamkeit zu erhalten, tritt das Mädchen mit Schlamm beschmutzten Regenstiefeln vor ihre Mutter und sorgt bei dieser für einen genervten Gesichtsausdruck. Auch ihren Vater kann sie nicht von der Arbeit ablenken und die quietschende Zimmertür sorgt nur für zusätzliches Stirnrunzeln. Insgeheim wünscht sich Coraline eine neue Familie, eine die Zeit für sie hat. Am liebsten eine Mutter, die gerne kocht und ein Vater, der sich nicht mit peinlichen Witzen in Szene zu setzen versucht. Auf sich allein gestellt, durchwandert das Mädchen die leeren Zimmer ihres neuen Zuhauses und entdeckt ganz zufällig eine kleine Tür. Kein Wirbelsturm (Wizard Of Oz) und auch kein Kaninchenbau oder Spiegel (Alice In Wonderland/Through The Looking Glass) bringen Coraline in eine Anderswelt, sondern ein langer Gang, der die symbolische Verbundenheit und die versuchte Abnabelung von ihrer Mutter bereits andeutet.
Auf der anderen Seite angekommen, scheint sich auf den ersten Blick überhaupt nichts verändert zu haben. Doch die tristen und matten Farben sind verschwunden und durch intensiv leuchtende ersetzt worden. Aus der Küche locken ungewohnt leckere Düfte und Coraline stellt fest, dass da eine Person am Herd steht, die wie ihre Mutter aussieht. Verwundert über die Manifestierung ihrer kühnsten Träume, scheint selbst die augenfälligste Differenz zur Nebensache zu werden. Anstelle richtiger Augen, trägt ihre „andere“ Mutter Knöpfe. Autor Neil Gaiman, bezeichnenderweise verantwortlich für die erfolgreiche Sandman-Comicserie, verweist nicht nur auf E.T.A. Hoffmans Schauermärchen, sondern setzt zusammen mit Regisseur Henry Selick in seiner handgemachten Ausführung des Kinderbuches auch ein Zeichen gegen die computeranimierte Konkurrenz. Stop-Motion hat als Technik die Bedrohung aus dem Rechner bereits überlebt und kann mit fassbaren Figuren und einem echten Set, realere Filmmagie entstehen lassen, als dies am Computer (im Moment) möglich wäre. Die Tiefe für die 3D-Effekte muss hier nicht künstlich erschaffen werden, sie ist stets präsent. Als Attraktion verzichtet Selick aber keineswegs auf die dritte Dimension und doch thematisiert die Geschichte in Kombination mit der gewählten Technik selbstreflexiv, die Effekthascherei als Augenraub.
Die Vokalvertauschung im Vornamen der Protagonistin steht sinnbildlich für den Zielkonflikt, in dem sich Coraline alsbald befindet. Wo gehört sie den nun eigentlich hin? In der Anderswelt ist vieles nicht einfach anders, sondern besser und so überlegt sich das aufgeweckte Mädchen durchaus einen Augenblick, für immer die Seiten zu wechseln. Speis und Trank im Überfluss, aufmerksame hippe Eltern und ein Mäusedirektor, der ihren Namen richtig auszusprechen versteht, lassen ihre Wünsche Wirklichkeit werden. Sogar der nervige und geschwätzige Nachbarsjunge bleibt stumm und der einst so triste Garten erstrahlt in paradiesischer Pracht. Das Beste: Coraline braucht sich innerlich überhaupt nicht zu verändern. Ihren Namen und somit ihre Identität dürfte sie behalten. Nur diesen einen, äusserlichen Makel im Gesicht muss sie beheben lassen. Ganz fies, mit spitzer Nadel und dunklem Bindfaden, möchten die Eltern sie sich vorknöpfen. Spielraum gibt es nur bei der Farbwahl, wobei angemerkt sei: „Schwarz ist traditionell.“ Das schlaue Mädchen erkennt aber schnell, dass sie sich genau dieses Fenster zur Seele nicht verbauen lassen darf. Ihre „andere“ Mutter giert mit verdunkeltem Blick wie Hoffmans Sandmann nach den Kinderaugen und greift, nachdem ihre perfekte Welt als Lockmittel nicht mehr überzeugt, zu furchteinflössenden Einschüchterungen. In einer eindrücklichen Stop-Motion-Morphing-Sequenz verzerrt sich das ideale Mutterbild zur langhalsigen, dürren Spinnenfrau und gibt somit jenen fehlenden Perfektionismus preis, den Coraline zu Beginn der Geschichte an ihrer richtigen Mutter noch bemängelt hätte. Der ehemals zauberhafte Zufluchtsort verwandelt sich in ein Gruselkabinett und schickt das Mädchen auf eine Geisterbahnfahrt, die sie tapfer überstehen wird.
Coralines Wunderland verlangt vehement nach einer Gegenleistung, die das Mädchen aber nicht bereit ist zu bezahlen. Die vorschnelle Flucht wird selbstbewusst abgebrochen und sie kehrt noch einmal zurück, um sich ihrer „anderen“ Mutter entgegen zu stellen. Analog zu Alice wird auch Coraline während des Abenteuers ein gutes Stück erwachsener. Nun ist sie es, die Forderungen stellt. Drei Geisterkinder hat sie etwas unfreiwillig kennengelernt, deren Seelen sie zu retten versucht. Viel wichtiger sind ihr mittlerweile ihre echten Eltern, die von der „anderen“ Mutter als Kindheitserinnerung in einer „Kane-schen“ Schneekugel weggesperrt worden sind. Mit viel Geschick verscheucht das Mädchen die symbolischen Geister unter ihrem Bett, geht gestärkt aus dem Abenteuer hervor und findet zu ihrer liebevollen Familie zurück, deren unaufgeregt alltäglichen Trott sie vermisst hat.
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